Diplomtrainer und Sportheilpraktiker -
Das Dopingproblem aus sportsoziologischer Sicht (Prof. Bette)

 

Thesen: „Auch Doping-Gegner können Teil des Problems werden“ und: "Zweifelhafte Helden der Landstraße: sektenartiger Kollektivgeist"

Professor Karl-Heinrich Bette, Sportsoziologe am Institut für Sportwissenschaft der TU Darmstadt, schrieb zusammen mit Uwe Schimank die beiden maßgeblichen Bücher zu Soziologie des Dopings. Kernfrage: Warum dopen Sportler?

Sind Sie aus soziologischer Sicht enttäuscht über gedopte Radsportler?

Doping-Sünder sind für mich Täter und Opfer zugleich. Wenn man sich anschaut, wie lange die Mitglieder eines Profiteams im Jahr zusammen sind – das können mehr als 200 Tage sein –, kann man sich vorstellen, dass unter diesen Bedingungen ein sektenartiger Kollektivgeist entstehen kann, in dem das kreative Umgehen der traditionellen Sportregeln als völlig normal erscheint. Die Idee des Gewinnens und der bestmöglichen Plazierung steht im Vordergrund. Meist wird eine derartige Gemeinschaft von Sponsoren umzingelt, die die Athleten in ihrem Siegeswillen vertragsmäßig bestärken. Auch wenn die Sponsoren offiziell Sauberkeit verlangen, belohnen sie nur sportliche Erfolge. Man kann sich leicht vorstellen, was unter diesen Bedingungen mit der traditionellen Sportmoral passiert: Sie verkommt zu einer Vorzeigemoral, über die Eingeweihte hinter vorgehaltener Hand nur lachen.

Wer bestärkt die Athleten, sich zu dopen, anstatt Möglichkeiten aufzuzeigen, auch ohne Doping ganz nach vorne zu kommen?

Doping ist ein soziologisch interessantes Thema, weil man an diesem Beispiel zeigen kann, wie stark individuelles Handeln durch soziale Bedingungen beeinflusst wird. Die erste Größe, die auf den Athleten einwirkt, ist die Logik des Leistungssports selbst. Das olympische Motto heißt „Citius, altius, fortius“, also „Schneller, höher, stärker“. Wenn man sich das Motto anschaut, erkennt man die innere Unendlichkeit, die symbolisch eingespeichert ist. Man ist nie zufrieden mit dem, was man erreicht hat. Das System Spitzensport ist auf Eskalation angelegt. Immer weiter die Leistungen zu steigern, das fasziniert letztlich das Publikum.

Welche anderen Akteure sind bedeutsam?

Das Publikum kann im Spitzensport Bedürfnisse nach einem intensiven Erleben, nach Abwechslung, Gemeinschaft, Fest und Rausch ausleben, es kann Helden verehren und an einer Welt der Ungewissheit teilhaben, die für den Einzelnen aber konsequenzenlos bleibt. Aufgrund des Publikumsinteresses werden auch andere Akteure auf den Spitzensport aufmerksam, in erster Linie die Massenmedien, die Auflagen steigern oder Quoten erhöhen wollen. Über die Anwesenheit der Massenmedien und über die mediale Präsentation der sportlichen Leistung gibt es politische und wirtschaftliche Instanzen, die am Sport interessiert sind, um die eigene Wählbarkeit zu steigern oder den Sport für Werbezwecke zu nutzen. Aber: Alle haben eigentlich kein Interesse am Spitzensport, sondern immer nur an sich selbst. Die Konsequenz, die durch diese Handlungsverstrickungen entsteht, lässt sich mit dem Begriff der „Anspruchsinflationierung“ auf den Punkt bringen. Die Ansprüche gegenüber den Athleten werden immer größer, können aber immer weniger durchgesetzt werden.

These: "Schneller, höher, stärker: Das System Spitzensport ist auf Eskalation angelegt”

Mit anderen Worten: Das Publikum ist Teil des Doping-Problems?

Durchaus. Wichtig dabei ist, dass die Verstrickung des Publikums in die Doping-Problematik vornehmlich unwissentlich funktioniert. Wenn eine Million Zuschauer den Fernseher einschalten, wird eine Dynamik freigesetzt, die sich dem Willen des einzelnen Zuschauers völlig entzieht. Auch Doping-Gegner können so zu Problemerzeugern werden. Ohnehin wird Doping in der allgemeinen Bevölkerung eher ambivalent diskutiert. Vielen ist es egal, andere sind entsetzt und desillusioniert. Das Publikum ist hin- und hergerissen zwischen den eigenen Unterhaltungsbedürfnissen einerseits und dem Festhalten an den traditionellen Sportregeln andererseits.

Was bewirken die Massenmedien?

Der Spitzensport besitzt Dramaqualitäten. Er leistet etwas, was in die Massenmedien besonders gut hineinpasst. Er ist konfliktträchtig, er produziert permanente Neuigkeiten, das Geschehen lässt sich moralisieren und personalisieren. Vor allem können Zuschauer das, was sie in einem sportlichen Wettkampf sehen, schnell und einfach verstehen und nachvollziehen – ganz im Gegensatz zu politischen und wirtschaftlichen Ereignissen. Aus dem engen Verhältnis von Massenmedien und Spitzensport hat sich aber inzwischen eine Nähe ergeben, die nicht unproblematisch ist. Viele Journalisten haben ihre professionelle Distanz verloren, sie hüpfen sozusagen dem organisierten Sport auf den Schoß und geraten in die Gefahr, dass sie das, was sie leisten sollen, nämlich sachlich und seriös über den Sport zu berichten, nicht mehr leisten können und wollen. Dies erzeugt in ihrer eigenen Profession hohe Opportunitätskosten: Journalisten stehen in der Gefahr, zu reinen Hofberichterstattern zu werden. Wenn Doping im Spitzensport passiert, kann sich diese Nähe sehr fatal auswirken. Dann wird relativiert und unter den Teppich gekehrt, und das Thema wird nicht so behandelt, wie es sollte. Bis heute gibt es keine Fernsehsendung über die subtilen Verstrickungen des Fernsehens in die Doping-Thematik.

These: "Anspruchsinflationierung: Die Idee des Gewinnens und der bestmöglichen Plazierung steht im Vordergrund”

Eine Zeitung ist auch ein Massenmedium . . .

Die Zeitungen haben ein Problem weniger: Sie müssen keine Bilder produzieren. Insofern haben Radio, Fernsehen und die Printmedien nicht die gleichen Schwierigkeiten im Umgang mit Doping. Das Radio kann anders über den Sport berichten als die Zeitung und die Zeitung anders als das Fernsehen. Das Fernsehen ist ein bildorientiertes Medium. Alle Informationen, die gesendet werden, müssen mit Bildern unterlegt werden. Als Zeitungsredakteur kann man auf Distanz gehen, kann Abstraktionen einführen und eigene Analysen zuschalten. Wenn man das im Fernsehen permanent machte und beispielsweise die Sportzuschauer als Teil der Doping-Problematik diskutierte, würden viele Zuschauer möglicherweise abschalten und sich narzisstisch gekränkt fühlen. Und da die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten durch die Konkurrenz mit den privaten Sendern auch gelernt haben, eine panische Angst vor niedrigen Einschaltquoten zu haben, tun sie alles, um das Publikum nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Doping wird im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nach wie vor unterkomplex behandelt.

Wie reagiert man in den Sportverbänden auf Doping?

Es gibt zwei Strategien. Erstens eine Intensivierung der Doping-Kontrollen: Man versucht intelligenter zu kontrollieren, mehr Athleten in den Kontroll-Pool hineinzunehmen. Die zweite Strategie geht in Richtung Pädagogisierung und Prävention. Man führt Ethikdebatten und will diejenigen, die sich noch nicht dopen, aufklären. Beide Strategien sind wichtig und unverzichtbar, haben sich aber im Grunde nicht als problemvermindernd erwiesen. Nach wie vor gibt es Doping, obwohl man die Ethikdebatten angeheizt hat und immer mehr Geld in die Doping-Kontrollen steckt. Die Sportverbände haben vor allem im internationalen Kontext Schwierigkeiten, die Doping-Bekämpfung effektiver zu gestalten.

These: "Eine Doping-Freigabe würde den Sport vollends zerstören"

Was wäre also zu tun?

Die soziologische Antwort lautet: Man muss die Akteure, die auch unwissentlich dazu beitragen, dass Doping offensichtlich flächendeckend in einigen Disziplinen eingesetzt wird, an der Problembekämpfung beteiligen. Man müsste nachdenken, was beispielsweise die Massenmedien tun könnten, um dem Sport die Mitteilung zu geben, dass sich Doping nicht länger lohnt.

Was müsste die Politik tun?

Die Politik sollte die Vergabe der Gelder an Leistungen der Anti-Doping-Praxis der Verbände koppeln und nicht nur an sportliche Erfolge binden. Sie müsste vermehrt darauf schauen, wie die einzelnen Verbände mit ihren Dopingproblemen umgehen. Und sie könnte vornehmlich durch gesetzgeberische Initiativen Impulse geben, um dem organisierten Sport die Botschaft zu übermitteln, dass Doping nicht länger toleriert wird.

Was kann ein Sponsor tun?

Auch der Sponsor steckt in einer Beziehungsfalle. Er will auf seine Produkte hinweisen und greift dafür auf die erfolgreichsten Athleten einer Disziplin zurück. Wie aber wird man Bester in einer Disziplin, in der Doping weit verbreitet ist? Also schreibt ein Wirtschaftsunternehmen Anti-Doping-Klauseln in die Verträge mit Sportlern und versucht sich so gegenüber Doping abzusichern. Gleichzeitig wechselt man sofort zu den Konkurrenten über, wenn der, den man gefördert hat, nicht erfolgreich ist. Das zeigt die Bigotterie auch auf der Ebene von Sponsoren.

Wie sieht die Beziehungsfalle des Trainers aus?

Trainer können ihre eigenen Leistungen nicht sichtbar machen. Ein Trainer ist immer auf den Erfolg seiner Sportler angewiesen. Er kann pädagogisch sehr wertvoll arbeiten, aber das bleibt unsichtbar, weil der Trainererfolg immer über den Athletenerfolg gemessen wird. Wenn also ein Athlet nicht erfolgreich ist, dann hat das für den Trainer Konsequenzen. Durch diese enge Beziehung zwischen Trainer und Athlet ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Trainer zur Seite schaut, wenn Athleten sich dopen. Manchmal fördern Trainer sogar aktiv die Doping-Praktiken, um selbst erfolgreich zu werden.

Wie wirken Niederlagen?

Trainer verlieren ihre Reputation, wenn sie Athleten trainieren, die nicht erfolgreich sind. Sponsoren verlieren ihre Werbeeffekte, Politiker können sich nicht im Glanze von Sporthelden sonnen und die Massenmedien haben verringerte Einschaltquoten, wenn sie nur über die Niederlagen der eigenen nationalen Sporthelden zu berichten haben. Auf der Ebene der Athleten führt dies zu einer Verdopplung des Risikoniveaus.

Würde eine Doping-Freigabe das ganze Problem lösen?

Absolut nein! Eine Doping-Freigabe würde nur zu einer Verschärfung des Problems führen. Wir würden im Spitzensport nur noch die Hasardeure haben. Wir würden auch nicht mehr die Leistungsfähigkeit der Athleten testen, sondern nur noch die Doping-Toleranz des menschlichen Körpers. Viele Bezugsgruppen würden sich angewidert abwenden. Ich vermute, dass eine Doping-Freigabe den Sport vollends zerstören würde.

 

Das Gespräch führte Eike Schulz.    www.faz.net    03.07.08